Kapitel 5 Ich bin schon einmal gestorben
In der Stille des Bürozimmers klang Ramons Stimme besonders unheilvoll.
In diesem Moment saß er dominant auf seinem Bürostuhl. Ein boshaftes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus und verlieh seinem hübschen Gesicht einen furchterregenden Farbton.
Er sah aus wie ein wildes Tier, das seine Beute beobachtet. Als sein Blick über sie glitt, nahm er einen blutrünstigen Ausdruck an.
Ximena trug einen übergroßen weißen Kittel und eine OP-Maske, die nur ihre Augen freiließ. Sie bezweifelte, dass Ramon sie in diesem Kleid erkennen konnte. Nachdem sie sich einen Moment Zeit genommen hatte, um sich zu beruhigen, fragte sie: „Wen suchen Sie?“
„Bestehen Sie darauf, Ihre Tat fortzusetzen?“ Ramons Stimme wurde eiskalt.
Als ob sie sich ihrer neuen Identität vergewissern wollte, warf Ximena einen Blick auf die Visitenkarten auf dem Schreibtisch, auf denen deutlich „Amena Griffin“ stand, der Name, unter dem sie im Krankenhaus bekannt war.
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Sind Sie um diese Uhrzeit in mein Büro gekommen, um zu erfahren, wann Ihr Sohn sterben wird?“ Sie behielt einen höflichen Ton bei, aber ihre Augen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln.
Ramons Augen verdunkelten sich. Er stand von seinem Stuhl auf, näherte sich Ximena Schritt für Schritt, bis sie in Reichweite war, und starrte sie finster an. „Glauben Sie, dass Sie mich täuschen können, indem Sie einen weißen Kittel tragen und Ihren Namen ändern?“
Er streckte die Hand aus und riss ihr wütend die Maske vom Kopf.
Ein vertrautes Gesicht erschien vor seinen Augen und wischte den letzten Rest von Zweifel aus seinem Herzen. Er hatte mit seiner Vermutung recht gehabt, aber sie brachte ihm kein Glück.
„Genau wie ich vermutet habe“, spuckte er und knirschte mit den Zähnen.
„Ja, ich bin es. Sie sind doch sicher enttäuscht, dass ich nicht schon vor vier Jahren auf dem Operationstisch gestorben bin, oder?“
Da es keinen Sinn mehr hatte, den Schein aufrecht zu erhalten, hob Ximena die zerknitterte Visitenkarte vom Schreibtisch auf und warf sie mit einem leichten Lächeln in den Mülleimer.
„Selbst wenn du überlebt hättest, hättest du einfach verschwinden sollen! Was hat dir die Nerven gegeben, zurückzukommen?“ Ramon kochte vor Wut.
Als Ximena zurückweichen wollte, stieß sie versehentlich mit dem Rücken gegen die Kante des Schreibtischs, was ihr einen stechenden Schmerz über den Rücken jagte. Sie biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, um nicht aufzuschreien, und sah den Mann vor ihr trotzig an. Als er näher kam, versuchte sie ihn mit beiden Händen von sich zu stoßen.
„Warum kann ich nicht zurückkommen? Warum? Soll ich sterben, nur weil deine geliebte Lyla mich nicht mag?“ Ein humorloses Grinsen spielte auf Ximenas Lippen. „Zu deinem Unglück bin ich eine der glücklichen Überlebenden.“
„Wie kannst du es wagen, Lyla zu erwähnen!“ Ximenas Worte trafen einen wunden Punkt. In Ramons Augen war Xinema die einzige Person, die niemals das Recht haben würde, über Lyla zu sprechen.
Wut stieg in ihm an die Oberfläche, bereit, die Frau vor ihm zu verschlingen.
„Was? Ist deine frisch verheiratete Frau so wertvoll, dass ich sie nicht einmal erwähnen darf? Ich habe gehört, sie hat all die Jahre ein gutes Leben geführt und dir sogar einen entzückenden Sohn zur Welt gebracht. Ich wette, sie ist traurig, dass Neil auf der Intensivstation mit dem Tod kämpft, oder?“ Ximenas Augen waren voller Wut.
Aber in Ramons Augen war Ximena die Schuldige, die dafür gesorgt hatte, dass Lyla bis heute im Koma lag. Und sie empfand immer noch keine Reue.
Sie konnte nicht einmal zugeben, dass sie im Unrecht war. Das war etwas, was er ihr nie verzeihen konnte.
Jeder auf der Welt wusste, dass Lyla ihretwegen in diesen Zustand geraten war, und dennoch konnte sie immer noch lachen?
„Ein gutes Leben führen?“ Ramon packte Ximenas Handgelenk und drückte mit solcher Kraft zu, dass ihre Knochen fast zertrümmert wären. „Wenn du damals diejenige gewesen wärst, die verletzt wurde, würdest du heute noch lachen?“
„Zu schade, dass ich nicht Lylas Glück hatte“, kicherte Ximena leicht.
Knall!
In diesem Sekundenbruchteil sah Ramon Rot und verlor völlig den Verstand.
Er warf Ximena hart auf den Boden. Ihre Knie und ihre Handflächen, die sie ausgestreckt hatte, um den Sturz abzufangen, fingen den größten Teil der Wucht ab, doch ein stechender Schmerz schoss durch ihre Hüfte. Blut tropfte um sie herum und färbte den Boden rot. Sie stieß nur ein gedämpftes Stöhnen aus, als sie landete, doch ihr Gesicht war totenbleich geworden.
Nach all den Jahren... hasste Ramon sie immer noch so sehr?
War das der Grund, warum er Neil so behandelte?
Da er seinen ganzen Hass nicht an ihr auslassen konnte, ließ er ihn stattdessen an einem unschuldigen Kind aus?
Was für ein wirklich herzloser Mann.
„Wie auch immer, Lyla wird in diesem Leben wahrscheinlich nicht mehr aufwachen. Jemand wie sie verdient es, in einem Krankenhauszimmer zu verrotten und zu sterben. Du kannst dir genauso gut eine neue Frau suchen, wie du es damals getan hast.“
Obwohl sie am Boden krumm lag, fuhr Ximena fort, Lyla zu verspotten. Ihre Augen glänzten vor Tränen, während sie den stechenden Schmerz schweigend ertrug.
„Glaubst du wirklich, dass ich dich nicht töten werde?“ Ramon ging in die Hocke und packte sie fest am Kiefer.
„Hast du vergessen, dass ich schon einmal gestorben bin?“, brach Ximena in hysterisches Gelächter aus.
Die Worte riefen in Ramons Gedächtnis eine dunkle Erinnerung hervor, die ihn in Trauer stürzte.
Er war vor vier Jahren ins Krankenhaus geeilt, aber als er dort ankam, war Ximena bereits verschwunden. Auf dem Boden lagen nur noch einige blutbefleckte Einverständniserklärungen.
Ramon schüttelte sich und blickte auf das vertraute Gesicht vor ihm. Die beiden hatten zwei Jahre lang ein Bett geteilt und er wusste immer, was sie dachte. Er wusste sogar, wie sehr Ximena ihn liebte. Damals hatte er geglaubt, er könne ihr alles verzeihen. Aber er hätte nie gedacht, dass sie so grausam sein könnte. Was sie Lyla angetan hatte, war unverzeihlich!
Doch so sehr er sie auch verachtete, er brachte es nicht übers Herz, ihr wehzutun.
"Aussteigen!"
Das war alles, was Ramon jetzt zu Ximena sagen konnte.
„Das ist mein Büro. Du bist diejenige, die gehen sollte“, erwiderte Ximena, ohne auch nur den geringsten Anflug von Angst in den Augen.
„Ich muss blind gewesen sein, um dich damals zu heiraten.“ Ramon stand auf und drehte sich zum Gehen um.
Ximena war fassungslos. Was meinte er damit? War sie nicht diejenige, die blind gewesen war? Wenn sie damals nicht darauf bestanden hätte, diesen Mann zu heiraten, wäre ihr nicht so ein elendes Schicksal widerfahren.
„Nun, ich muss blind gewesen sein, um mich in einen Mann zu verlieben, vor dem sogar ein Dämon Angst hätte. Ich war dumm, dich zu heiraten“, entgegnete Ximena.
Diese Worte waren so schrill, dass Ramon innehalten musste.
„Wenn du noch ein Gewissen hast, gib mir Neil zurück“, sagte Ximena ernst.
Es war das erste Mal, seit er diesen Raum betreten hatte, dass Ramon sich amüsierte. „Träum weiter.“
„Neil ist mein Sohn, jeder weiß es. Du hättest mich damals nicht am Leben lassen sollen. Jetzt, da ich von Neils Existenz weiß, werde ich nie zulassen, dass er Lyla als seine Mutter betrachtet! Wie auch immer, du hast dein Ziel bereits erreicht. Was bringt es, Neil an deiner Seite zu behalten? Du liebst ihn nicht.“
„Das geht dich nichts an“, antwortete Ramon kühl. Er hatte nicht die Absicht, ihr den Jungen zurückzugeben. Wie konnte man einer so bösen Frau die Erziehung eines Kindes anvertrauen? Sie verdiente es nicht.
„Ramon! Wenn dir Neil etwas bedeutet, gib ihn mir zurück!“, rief Ximena, und ihre Fassung war endgültig dahin.
„Neil wirst du in diesem Leben nie kriegen.“ Damit verließ Ramon den Raum und schlug die Tür hinter sich zu.
Der laute Knall hallte durch den Korridor und erregte die Aufmerksamkeit der Passanten.
Das Krankenhauspersonal in der Nähe bemerkte einen Mann, der mit kaltem Blick aus Ximenas Büro ging.
War das nicht Ramon Mitchell? Was machte er in Dr. Griffins Büro?
Die besorgten Mitarbeiter stürmten ins Bürozimmer.
Zu ihrem Schock sahen sie, wie Ximena blutend auf dem Boden zusammenbrach.
Lachlan Young fragte hastig: „Dr. Griffin, was ist passiert? Hat Mr. Mitchell Ihnen etwas angetan? Hat er Ihnen wehgetan?“
„Mir geht es gut“, sagte Ximena, während sie mühsam auf die Beine kam.
„Aber du blutest. Was zum Teufel ist das Problem dieses Kerls? Die Operation seines Sohnes war offensichtlich erfolgreich, warum also ist er hergekommen und hat eine Szene gemacht? Er ist verrückt!“, sagte Lachlan wütend.
Auch das restliche Personal war außer sich vor Wut. Sie konnten nicht glauben, wie arrogant die Familie Mitchell war. Gleichzeitig dachten sie aber auch, dass Dr. Griffin etwas Unangebrachtes getan haben musste. Da sie aus dem Ausland hierhergezogen war, wusste sie wahrscheinlich nicht, wie die Dinge hier funktionierten oder wer in dieser Stadt die Macht hatte.