Kapitel 4: Identitätsverwechslung
Das von Martin für seinen Sohn Randy gegründete Ivara-Krankenhaus lag im Herzen von Ivara und zog die renommiertesten Kardiologen des Landes an.
Während ihrer vier Jahre in Land A hatte sich Patricia dem Studium der Herz-Thorax-Chirurgie gewidmet, in der Hoffnung, Randy eines Tages operieren zu können und ihm so ein normales Leben zu ermöglichen.
Nach jahrelanger Anstrengung war sie eine der weltweit führenden Herzchirurginnen geworden und wurde vor einer Woche von Martin eingeladen, nach Hause zurückzukehren, um Randy zu behandeln.
Der Dekan des Krankenhauses war sich Patricias Ruf im medizinischen Bereich durchaus bewusst und begrüßte sie herzlich: „Hallo, Professor Watson. Wir haben Ihre Ankunft mit Spannung erwartet.“
Patricia entschuldigte sich etwas verlegen: „Es tut mir leid wegen der Verzögerung. In meinem vorherigen Krankenhaus musste ich viele Aufgaben abgeben.“
Der Dekan beruhigte sie schnell: „Kein Problem, das verstehe ich! Ich zeige Ihnen zuerst Ihren Arbeitsplatz und stelle Sie Ihren Kollegen vor.“
Patricia nickte und folgte dem Dekan durch die Ambulanz, um sich einen ersten Eindruck von den dortigen Ärzten zu verschaffen, bevor sie zur Station für stationäre Patienten gingen.
Der Dekan scherzte: „Mit Professor Watsons Ankunft ist das Durchschnittsalter unseres Krankenhauspersonals sicherlich gestiegen. Vor Ihnen war Professor Brown unser jüngster Professor. Ich fand es immer schon eine ziemliche Leistung, wenn jemand in ihrem Alter eine Position als außerordentlicher Professor innehat. Aber Sie, noch jünger, haben es bis zum ordentlichen Professor geschafft.“
„Professor Brown?“
Sie standen gerade vor der Arztpraxis, als der Dekan hinein zeigte: „Sie werden gleich Professor Brown kennenlernen.“
Als sie eintraten, stellte der Dekan Patricia jedem einzelnen Mitarbeiter vor. Als er Professor Browns Abwesenheit bemerkte, fragte er: „Wo ist Professor Brown?“
Ein kahl werdender Arzt schob seine Brille hoch und antwortete: „Das Kind der Familie Langley wird vermisst. Professor Brown und Martin sind losgegangen, um nach dem Kind zu suchen.“
Das Kind der Familie Langley?
Hat er von Randy gesprochen?
Patricia schlug das Herz bis zum Hals.
„Das Kind der Familie Langley wird vermisst? Wo könnte es hingegangen sein? Könnte etwas passiert sein?“ Die Schläfen des Dekans pochten vor Sorge. „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Das Langley-Kind hat nur einen Wutanfall. Das passiert fast jede Woche. Es kann nirgendwo anders hin und schleicht sich am Ende immer wieder nach Hause.“
„Jede Woche?“ Patricias Herz krampfte sich vor Schmerz zusammen, in ihrem Kopf rasten die Gedanken.
Randy muss die Qualen seiner Krankheit nicht ertragen können, weshalb er oft davonläuft.
Allein der Gedanke daran reichte aus, um ihr Kummer zu bereiten.
Der Dekan riet Patricia: „Dieses Krankenhaus wurde von Martin für Randy gegründet. Professor Brown ist Randys Tante. Randy kann ziemlich temperamentvoll und schwierig im Umgang sein. Sie müssen in seiner Nähe vorsichtig sein.“
Patricia rief überrascht aus: „Professor Brown ist Debbie?“
Der Dekan nickte. „Ja, Professor Browns richtiger Name ist Debbie. Sie kennt sich auch gut in Kardiologie aus, eine Mischung aus Talent und Schönheit.“
Ein kaltes Glitzern huschte durch Patricias Augen.
Feinde kreuzen oft die Wege der anderen.
Sie war jetzt Debbies Kollegin und hatte sogar einen höheren Rang als sie.
Wie interessant.
Nachdem sie sich im Krankenhaus informiert und mit dem Dekan einen Starttermin vereinbart hatte, bereitete sich Patricia auf die Heimreise vor.
Als sie den Parkplatz erreichte, bemerkte sie ein vertrautes kleines Gesicht, das herumschlich und hier und da spähte.
Patricia marschierte wütend herüber und verdrehte ihm das Ohr: „Du kleiner Schlingel, habe ich dir nicht gesagt, du sollst zu Hause bleiben und nicht weglaufen? Warum bist du mir hierher gefolgt?“
Randys Nacken war vor Schmerzen nach hinten geneigt und sein hübsches kleines Gesicht war vor Unbehagen zerknittert.
„Wie kannst du es wagen, mir etwas vorzumachen? Bist du lebensmüde?“
Patricia lachte trotz ihrer Wut.
„Wer hat Ihnen die Dreistigkeit gegeben, so mit mir zu reden?“
Randy kämpfte verzweifelt.
Patricia wollte ihn nicht verletzen und ließ los, sodass er sich befreien konnte.
„Du …“ Randy blickte trotzig auf, kurz davor, in Wut auszubrechen, doch als er Patricias Gesicht sah, erstarrte er, und in seinen Augen blitzte ein Wirbelwind der Gefühle auf – von anfänglicher Wut über Überraschung, dann Unglauben und schließlich überwältigende Beschwerde.
"Mama."
Unzählige Male hatte er dieses Fremdwort geprobt.
Doch diese Frage wurde nie beantwortet.
Es erfüllte ihn mit Neid, andere mit ihren Müttern zu sehen, obwohl er selbst keine hatte.
Als Patricia seinen bemitleidenswerten Zustand sah, brachte sie es nicht mehr übers Herz, ihn zu schelten. Sie bückte sich, hob ihn hoch und blies ihm sanft ins Ohr.
„Es tut mir leid, hat Mama dir gerade wehgetan? Es tut mir leid, sei nicht böse auf Mama.“
Obwohl es ihr erstes Treffen war.
Randy fand, dass ihre Stimme ihm unheimlich bekannt vorkam.
Als hätte er es unzählige Male in seinen Träumen gehört.
"Bist du wirklich meine Mama?"
Patricia war sprachlos und erwiderte: „Was? Erkennst du deine eigene Mutter nicht?“
Bei ihren Worten brachen Randy endlich die Tränen aus, die er zurückgehalten hatte.
Er klammerte sich an Patricias Hals und rief immer wieder: „Mami, Mami, Mami ...“
Als könne er es nie oft genug sagen.
Als wolle er jahrelange Sehnsucht in einem einzigen Erguss ausdrücken.
Patricia war gerührt, hörte auf, wütend zu sein und klopfte ihm sanft auf den Rücken. „Schon gut, ich bin nicht mehr sauer. Hör jetzt auf zu weinen.“
Nach einer Weile ließ Randy Patricia los.
Plötzlich ertönte aus der Nähe ein gurgelndes Geräusch.
Ungläubig schaute Patricia auf seinen kleinen Bauch: „Hast du schon wieder Hunger?“
Hatte er nicht gerade viel gegessen?
Randys Wangen wurden rot und der einst so reizbare kleine Löwe verwandelte sich in ein sanftmütiges Kätzchen, das sich ruhig in Patricias Arme schmiegte und zu verlegen war, um zu sprechen.
Patricia schüttelte hilflos den Kopf.
„Lass uns nach Hause gehen, Mama macht dir was Leckeres.“
Randy nickte gehorsam.
Patricia setzte ihn auf den Beifahrersitz und ließ sich auf dem Fahrersitz nieder.
Randy konnte nicht glauben, dass das wirklich passiert war, und befürchtete, es sei ein Traum. Er kniff sich in die Wange und zuckte vor Schmerz zusammen.
„Es ist kein Traum, es ist real.“
Patricia kicherte hilflos.
„Dummer Junge, mach nicht so einen Blödsinn vor anderen. Sie werden dich auslachen.“
Randy neigte den Kopf, ohne den Blick von Patricias Gesicht abzuwenden.
Patricia erlaubte ihm einen Blick und fand seinen albernen Gesichtsausdruck liebenswert.
Anderswo.
Martin ließ seine Leute alle Orte durchsuchen, an denen Randy gewesen sein könnte, aber sie fanden keine Spur von ihm. Sein hübsches Gesicht war in Dunkelheit gehüllt, als wäre er bereit, einen Mord zu begehen .
Seine Untergebenen waren zu verängstigt, um auch nur zu atmen.
Debbie kam zu ihm, um ihn zu trösten: „Martin, Randy wird wieder gesund. Er hat kein Geld, er kann nicht weit gekommen sein. Sieh dich noch mal im Krankenhaus um.“
Obwohl sie das sagte, fluchte sie in ihrem Herzen und hoffte, dass Randy dort draußen sterben würde.
Auf diese Weise wären ihre Kinder die rechtmäßigen Erben, sobald sie und Martin verheiratet wären.
In diesem Moment kam Alan hereingestürzt.
„Chef, wir haben sämtliche Überwachungsaufnahmen des Krankenhauses überprüft und endlich Randys Aufenthaltsort gefunden!“
Nachdem ich den USB-Stick in den Computer gesteckt und das Video geöffnet hatte, war Martins markantes Gesicht von eisigem Frost umhüllt.
Es war tatsächlich Patricia.
„Martin, ist das Patricia? Ist Charles zurückgekommen? Hat sie Randy mitgenommen?“ Als Debbie Patricia sah, traten ihr fast die Augen aus den Höhlen.
Sie hätte nie gedacht, dass Patricia, die fünf Jahre lang vermisst war, plötzlich zurückkehren würde.
Martins Augen blitzten vor Schock und er befahl emotionslos: „Rufen Sie die Polizei!“
Alan zögerte: „Wirklich die Polizei rufen?“
Martin zog kalt eine Augenbraue hoch: „Hast du mich nicht gehört? Oder soll ich mich wiederholen?“
Alan brach in kalten Schweiß aus und wählte die Nummer der Polizeiwache.
Als Debbie Martins strenges und wütendes Gesicht sah, heizte sie die Stimmung absichtlich an: „Martin, warum ist Charles plötzlich zurückgekommen? Sie hat doch nicht vor, zurückzukommen und für Randy zu kämpfen, oder?“
Martin starrte finster auf den Computerbildschirm und tief aus seiner Kehle drang ein leises Lachen hervor.
„Für Randy kämpfen? Das wünscht sie sich.“ Dann schnappte er sich seine Autoschlüssel und ging. Als sie Martin gehen sah, zitterte Debbie vor Wut und ballte ihre Hände zu Fäusten.
Fünf Jahre waren vergangen und Patricia war tatsächlich zurückgekehrt.