Kapitel 1 Das Unerhörteste
Camila Haynes hat heute geheiratet. Leider war ihr Bräutigam nirgends zu sehen.
Sie blickte in den leeren Raum und ihr Gesicht wurde kreidebleich.
Sie fühlte sich zutiefst gedemütigt. Camila wollte diese Beleidigung nicht hinnehmen!
Aber was konnte sie tun?
Von Geburt an wurden alle Aspekte ihres Lebens von anderen Menschen kontrolliert. Selbstverständlich schloss das auch ihre Ehe ein.
Camila war von seinem Vater, einem Mann, der von seiner Gier beherrscht wurde, zu dieser Verbindung gezwungen worden.
Ihr Großvater hatte als Chauffeur für Robin Johnston gearbeitet, den Patriarchen der mächtigen Johnston-Familie. Durch einen unglücklichen Zufall gerieten sie in einen schrecklichen Unfall, bei dem Camilas Großvater starb, als er Robin retten wollte.
In den letzten Monaten hatte die kleine Firma ihrer Familie massiv Schulden angehäuft. Sie standen kurz vor dem Bankrott. Trotzdem weigerte sich ihr schlauer Vater, die Familie Johnston um Hilfe zu bitten, da er wusste, dass dies die Schulden bei der Familie Haynes tilgen würde. Stattdessen schmiedete er einen Plan, der vorsah, dass Robins Enkel Isaac Johnston Camila heiraten sollte.
Angesichts des Reichtums der Familie Johnston würden sie im Austausch für Camilas Hand mit Sicherheit eine Menge Geld zahlen.
Und als Bonus konnten sie endlich eine festere und gesetzlich verankerte Verbindung zur Familie Johnston aufbauen.
Natürlich konnte es sich die Familie Johnston nicht leisten, das Angebot abzulehnen, sonst hätte sie auf die eine oder andere Weise ihr Gesicht riskiert.
Isaac drückte seine Unzufriedenheit mit der ganzen Vereinbarung dadurch aus, dass er nicht zum Bankett erschien, obwohl niemand außerhalb der Familie anwesend war. Er verbot Camila auch, den Familiennamen Johnston zu verwenden, und verbot ihr, den Leuten zu sagen, dass sie seine Frau sei.
Von Anfang bis Ende hatte sich niemand die Mühe gemacht, Camila nach ihrer Meinung zu fragen.
Jetzt stand sie mit geradem Rücken und straffen Schultern da. Ihre Wimpern zitterten vielleicht leicht, aber ihr Blick war stur. Sie würde sich der Demütigung nicht beugen.
Doch wie sollte sie nun vorgehen? Sie war noch am Überlegen, wie sie die erste Nacht verbringen sollte, als sie eine Nachricht von einer ihrer Kolleginnen erhielt.
Die Frau bat Camila, ihre Nachtschicht zu übernehmen.
Camila zögerte nicht. Sie verließ das Zimmer und rief ein Taxi, das sie ins Krankenhaus bringen sollte.
Augenblicke später stand sie im Personalraum des Krankenhauses und überprüfte die Patientenakten. Ihr Abendkleid hatte sie längst durch einen weißen Laborkittel ersetzt.
Mit einem lauten Knall wurde die Tür plötzlich von außen aufgerissen und krachte gegen die Wand.
Bevor Camila aufschauen und sehen konnte, was los war, wurde die Tür wieder zugeschlagen. Sie hörte das Klicken des Schalters und im Zimmer wurde es dunkel.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
"WHO-"
Der Rest des Satzes blieb ihr im Hals stecken, als sie auf den Schreibtisch gedrückt wurde. Ein Stapel Büromaterial fiel klirrend auf den Boden, gerade als sie die kalte, scharfe Klinge eines Messers an ihrem Hals spürte. „Ruhe!“, flüsterte ihr Angreifer grimmig.
Camila konnte das Gesicht des Mannes kaum erkennen, doch seine Augen stachen hervor. Sie blitzten im Dämmerlicht, sein Blick war voller Wachsamkeit.
Ein vertrauter metallischer Geruch lag in der Luft um sie herum und machte ihr klar, dass dieser Mann verletzt war.
Dank ihrer langjährigen Ausbildung und Erfahrung als Ärztin konnte Camila einen kühlen Kopf bewahren.
Sie wölbte langsam ein Bein und wollte den Mann mit dem Knie angreifen. Doch er durchschaute sie. Sobald er ihre Bewegung spürte, presste er ihre Beine mit Gewalt zusammen und drückte sie mit seinen kräftigen Oberschenkeln auf den Schreibtisch.
Plötzlich hörten sie laute Schritte auf dem Flur. Sie gingen direkt zum Personalraum.
„Schnell, ich habe ihn hierherkommen sehen!“
Ein einziger Hilfeschrei genügte und die Leute würden in den Raum stürmen.
Der Mann war nun verzweifelt, senkte den Kopf und küsste Camila.
Sie wehrte sich und war überrascht, dass sie ihn so leicht von sich stoßen konnte. Umso mehr, als der Mann sie nicht erneut mit dem Messer bedrohte.
Camilas Gedanken rasten.
In diesem Moment hatte derjenige, der sich auf der anderen Seite der Tür befand, die Türklinke gepackt.
Camila fasste einen Entschluss, zog den Mann an sich und schlang ihre Arme um seinen Hals. Diesmal war sie es, die ihn küsste.
„Ich kann dir helfen“, murmelte sie leise und hoffte, dass man ihr ihre Angst nicht anmerkte.
Der Mann schluckte hörbar. Er brauchte eine Sekunde, um seine Entscheidung zu treffen, dann spürte sie seinen heißen Atem in ihrem Ohr. „Ich übernehme die Verantwortung dafür.“ Seine Stimme war leise und magnetisch.
Aber er schien das missverstanden zu haben. Sie hatte das Ganze nur gespielt gemeint. Er musste für nichts die Verantwortung übernehmen.
In der nächsten Sekunde wurde die Tür erneut aufgerissen.
Camila und der Mann küssten sich sofort erneut. Sie stieß sogar ein langes, sinnliches Stöhnen aus, genau wie die, die sie in Pornovideos hörte. Trotz ihrer misslichen Lage bemerkte der Mann, dass sein Körper auf das Geräusch reagierte.
Er hätte sich möglicherweise darin verloren, wenn die Leute an der Tür nicht gesprochen hätten.
„Verdammt! Es ist nur ein Paar, das rummacht. Mann, die treiben es wirklich im Krankenhaus. Habt mal ein bisschen Anstand!“
Das Licht aus dem Flur fiel in den Raum und zeigte das verschlungene Paar. Der Körper des Mannes war jedoch um Camila geschlungen und verbarg so sein Gesicht effektiv vor den neugierigen Blicken der Eindringlinge.
„Na ja, Isaac ist es definitiv nicht. Der Bastard ist schwer verletzt. Egal, wie verführerisch eine Frau ist, ich bezweifle, dass er die Kraft hätte, ihr etwas anzutun.“
„Aber Alter, die Frau macht ein paar ziemlich nette Geräusche, oder?“
„Halt die Klappe und beweg dich! Wir müssen Isaac so schnell wie möglich finden, sonst verlieren wir unseren Kopf!“
Es raschelte und das Getrappel von Schritten war zu hören, als die Männer davoneilten und die Tür zurückließen, bis sie wieder ins Schloss klickte.
Der Mann wusste, dass seine Verfolger gegangen waren, aber das Wissen, dass sie jetzt allein waren, beeinträchtigte seine Selbstbeherrschung. Er rastete aus und eine unerwartete Welle der Lust überkam ihn.
Auch Camila blieb von diesem Verlangen nicht verschont. Vielleicht lag es an ihrer Nähe, an ihrer intimen Stellung, oder vielleicht an dem plötzlichen Adrenalinschub, aber eine rebellische Ader, von der sie nicht einmal wusste, dass sie sie besaß, kam an die Oberfläche.
Bis dahin hatte sie ein Leben in grauer Monotonie geführt und sich immer an die Regeln und Pläne gehalten, die andere für sie aufgestellt hatten.
Dieses Mal wollte sie sich – ausnahmsweise – etwas gönnen.
Camila ließ ihre Hemmungen fallen und ließ dem Mann freie Hand, zu tun, was er wollte. Einfach so gab sie ihm ihr erstes Mal in einer zugegebenermaßen harten und schmerzhaften Runde Sex.
Als sie fertig waren, küsste der Mann sie sanft auf die Wange. „Ich werde für dich kommen“, krächzte er, seine Stimme war noch immer vom Nachglühen der Erlösung durchzogen. Und dann ging er, genauso abrupt, wie er gekommen war.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Camila wieder auf die Beine kam. Ihre Taille und ihr Rücken schmerzten, ganz zu schweigen von ihrem Schritt.
Die Stille im Raum wurde durch das Klingeln ihres Telefons unterbrochen. Sie sah sich um und fand es an der Kante des Schreibtisches hängen.
Camila schnappte es, bevor es herunterfiel, und wischte dann mit der Hand, um zu antworten. „Doktor!“, ertönte eine aufgeregte Stimme. „Ein Patient wurde gerade in die Notaufnahme geschoben. Er hatte einen Autounfall und ist schwer verletzt. Sie müssen ihn sofort behandeln!“
Camila räusperte sich, um ihre Stimme ruhig zu halten. „Okay, ich bin gleich da.“
Sie legte auf und ging zur Tür, blieb dann aber abrupt stehen. Sie blickte an sich hinunter.
Ihre Kleidung war zerwühlt und zerknüllt und zwischen ihren Beinen war ein klebriges Gefühl. Camila zuckte zusammen, als ihr das klar wurde. Sie hatte in ihrer Hochzeitsnacht tatsächlich Sex mit einem Fremden gehabt.
Es war das Unverschämteste, was sie je getan hatte!
Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um ihre Taten zu feiern oder über ihre Konsequenzen nachzudenken. Camila räumte auf und ging in die Notaufnahme.
Den Rest der Nacht war sie mit der Arbeit beschäftigt.
Als sie endlich frei war, war es schon fast Morgengrauen. Sie kehrte ins Lehrerzimmer zurück und stellte fest, dass das Zimmer noch immer so unordentlich war, wie sie es verlassen hatte.
Camila ballte die Hände zu Fäusten, als ihr die Erinnerungen an die letzte Nacht – die erst wenige Stunden her war – in den Sinn kamen.
„Danke, dass Sie meine Schicht übernommen haben, Dr. Haynes.“ Camilas Kollegin Debora Griffith kam mit einem dankbaren Lächeln herein.
Camila zwang sich zu einem gequälten Lächeln. „Gern geschehen.“
„Ich kann das von hier aus übernehmen. Du solltest zurückgehen und dich ausruhen.“ Debora warf einen Blick auf die auf dem Boden verstreuten Papiere und hob die Augenbrauen. „Was ist hier passiert? Warum liegen alle Vorräte auf dem Boden?“
Camila wandte ihren panischen Blick ab und sagte: „Oh, ich habe sie aus Versehen fallen lassen. Bitte räum für mich auf. Ich bin erschöpft, also gehe ich zuerst.“
Debora fand Camilas Antwort merkwürdig, aber sie dachte sich nichts dabei. Sie verabschiedeten sich und sie begann, die Sachen aufzusammeln, die auf dem Boden verstreut lagen.
Sie hatte kaum begonnen, als der Krankenhausdirektor persönlich an der Tür erschien, gefolgt von Isaacs Assistent.